Die Rache des Präsidenten

Kommentar

Man konnte es ahnen, dass es so kommen würde - trotzdem fühlt sich der Moment selbst dann an wie ein Schlag in die Magengrube. Fassungslose Gesichter, manche weinen.

Erdoǧan

Das Urteil gegen den türkischen Zivilgesellschaftsmäzen Osman Kavala und sieben Mitangeklagte am Montagabend in Istanbul war der vorläufige Höhepunkt des autoritären Abdriftens der Türkei seit spätestens 2013. Kavala, laut dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte seit viereinhalb Jahren zu Unrecht inhaftiert, soll, so will es der türkische Staat, bis zum Rest seines Lebens im Gefängnis bleiben. Seine Mitangeklagten, sieben Aktivisten und Aktivistinnen der Zivilgesellschaft, die bisher auf freiem Fuß waren, sollen zumindest achtzehn Jahre lang weggesperrt werden, die Verhaftung erfolgt gleich im Gerichtssaal, nicht mal das Berufungsverfahren wurde abgewartet.

In den letzten Monaten war es nach Jahren der außenpolitischen Spannungen mit der EU und den USA ruhiger geworden um die Türkei. Die andauernde Wirtschaftskrise und die Tatsache, dass die Türkei an nahezu allen außenpolitischen Fronten den Anschluss an mögliche Verbündete zu verlieren drohte, hatte in den letzten Monaten dafür gesorgt, dass Ankara sich wieder auf Washington, Brüssel und Berlin zubewegte. Illusionen, dass dieses außenpolitische Tauwetter aber auch positive Auswirkungen auf die Lage im Inneren haben würde, wurden mit dem Urteil jäh zerstört.

Kosten und Nutzen?

Dabei ist unklar, was der Fall Kavala der türkischen Regierung überhaupt bringt, wenn man eine schlichte Kosten-Nutzenrechnung aufstellt. Auf der Soll-Seite stehen diplomatische Verwicklungen: Nach dem Urteil überschlugen sich die Verurteilungen aus europäischen Hauptstädten und Washington. Bundesaußenministerin Baerbock, bisher eher zurückhaltend, was die Türkei angeht, fand harsche Worte und forderte die unverzügliche Freilassung. Der Fall Kavala gilt vielen in der EU als Gradmesser dafür, ob nochmal irgendwann ein gedeihliches Verhältnis mit Ankara möglich ist.

Auf der Haben-Seite steht dagegen…praktisch nichts. Der Name Kavala, so bekannt er bei seinen Freunden und Unterstützern in der türkischen Zivilgesellschaft ist, sagt den meisten Türkinnen und Türken nichts. Erst als im Winter letzten Jahres die sogenannte Botschafter-Krise eskalierte, bei der der türkische Präsident Erdoǧan den wichtigsten westlichen Verbündeten mit sofortigem Abbruch der diplomatischen Beziehungen drohte, weil deren Botschafter sich öffentlich für Kavalas Freilassung ausgesprochen hatten, nahmen viele normale Bürgerinnen und Bürger von dem Fall Notiz. Kavala in Haft zu halten hat daher zwar durchaus einen kurzfristigen Schockeffekt auf Zivilgesellschaft und Opposition, allerdings auch keinen, der die Lage dieser ohnehin seit Jahren belagerten Gruppen weiter verschlechtern würde. Ihn freizulassen hätte in der Öffentlichkeit wenig Reaktionen hervorgerufen. Außer etwas Gemecker aus der nationalistischen Ecke ist kaum anzunehmen, dass Präsident Erdoǧan Auswirkungen auf seine Wahlchancen 2023 hätte erwarten müssen.

Wenn also der Preis für das Urteil für die Regierung wesentlich höher ist als der Nutzen, warum hält der Präsident dann trotzdem daran fest?

Klar, es gibt einen Aspekt von Trotz in dieser Geschichte. Allein die Tatsache, dass EU und USA laute Forderungen an Ankara stellen, führt schon zu reflexhafter Zurückweisung. Aber das ist nicht die ganze Geschichte. Denn schließlich sind ganz andere Politikwechsel in den letzten Jahren möglich gewesen: die Widerannäherung an Israel, obwohl Erdoǧan das Land jahrelang als Erzfeind galt, die Auslieferung des amerikanischen Predigers Brunson oder des deutschen Journalisten Deniz Yücel, obwohl beide noch kurz vorher als „Terroristen“ gebrandmarkt wurden, die Verbrüderung mit Russland, obwohl die türkische Luftwaffe noch kurz davor einen russischen Kampfjetzt vom Himmel geholt hatte und etwas später der russische Botschafter in Ankara ermordet wurde. Das zeigt: man lässt sich nicht gern belehren in Ankara, aber wenn die Notwendigkeit groß genug ist, dann ist der Stolz zweitrangig.

Daher bleibt nur eine Erklärung: Es geht um die persönliche Rache des Präsidenten. Und es geht um etwas, was Politikerinnen und Diplomaten zwischen Berlin und Brüssel oft nur unzureichend verstehen, weil es in ihrer politischen Realität meist nur noch eine untergeordnete Rolle zu spielen scheint: Ideologie.

Die Gezi-Proteste

Als die Proteste um den Gezi-Park 2013 losbrachen, versuchte der Präsident -widerwillig- zu schlichten; er traf sich mit mehreren der nun Verurteilten, um die Protestierenden dazu zu bringen, wieder nach Hause zu gehen. Die Vermittlung scheiterte an der Polizeigewalt und an der Unnachgiebigkeit der Regierung. Schon damals berichteten Personen aus dem direkten Umfeld Erdoǧans, er sei besessen gewesen von der Idee, dass die Proteste  größtenteils junger Akteur:innen, die er nicht verstand, ein Umsturzversuch seien, angezettelt aus dem Ausland, vermutlich den USA. Unter dem Eindruck der Protestwellen, die kurz zuvor im Nahen Osten verschiedene Präsidenten aus dem Amt gefegt hatten und dem kurz nach den Gezi-Protesten stattfindenden Putsch in Ägypten, sowie den innenpolitischen Auseinandersetzungen mit der Gülen-Bewegung, die Ende 2013 erst in Korruptionsermittlungen gegen Erdoǧans Familie und Regierung und dann 2016 in dem gescheiterten Putsch mündeten, festigte sich beim Präsidenten die fixe Idee, dass nicht nur Opposition und interne Gegner im Inland, sondern auch das Ausland ihn von der Macht verdrängen wollten. Auch heute noch sprechen Erdoǧan und seine Anhänger von drei Putschversuchen, die sich angeblich nahtlos aneinanderreihen: die Gezi-Proteste 2013, die Korruptionsermittlungen im gleichen Jahr und der Militärputsch von 2016.

Für diese Theorie ist Osman Kavala der perfekte angebliche Mittelsmann: er spricht Englisch, er hat ein breites Netzwerk an Kontakten in den USA und in Europa und war früher im Aufsichtsrat des türkischen Ablegers der Open Society Stiftung von Milliardär George Soros. Soros ist nicht nur Amerikaner und in den gefährlich wirren Erzählungen der globalen Rechten einer der angeblichen Architekten zahlreicher politischer Umstürze, er ist zudem Kind jüdischer Ungarn. Damit passt er perfekt in das Narrativ Erdoǧans und anderer aus islamistischen und nationalistischen Kreisen: „Agenten von außen“, „vaterlandslose“ Gesellen von innen und dann noch der sog. „Üst Akıl“ - eine Art graue Eminenz (und Krypto-Sprech für ein angebliches „Weltjudentum“), die auch hinter der Wirtschaftsmisere der Türkei stecken soll, organisierten Gezi und verschwören sich auch jetzt noch gegen die Türkei.

Erdoǧans Machtposition

Dieses ebenfalls wirre Narrativ fällt in der Türkei auf fruchtbaren Boden, selbst in gebildeten Kreisen finden sich erstaunlich viele Menschen, die die ein oder andere Verschwörungstheorie zur Bedrohung des Auslands und besonders des Westens gegen die Türkei zum Besten geben können. Geboren aus der oft menschenrechtsblinden Politik des Westens während des kalten Krieges und jahrzehntelang abgespulter Propaganda von rechts und links ist Vieles von dem, was Erdoǧan vorbringt, bei vielen Türken anknüpfungsfähig. Was nicht zwingend heißt, dass sie sich in Zeiten von steigenden Preisen besonders für das Regierungsnarrativ zum acht Jahre zurückliegenden Gezi-Protest interessieren.

Beobachter türkischer Politik sind daher von der dem Urteil zugrundeliegenden Propaganda der Regierung nicht überrascht. Lange allerdings wurde diese Ideologie als Mobilisierungsinstrument nach innen abgetan. Viele westliche Diplomatinnen und Politiker können sich schlicht nicht vorstellen, dass das, was der Präsident zum Teil deutlich sagt, wirklich seinem Weltbild entspricht. Nicht nur, weil Vieles davon so offensichtlicher Unsinn ist, sondern auch, weil der Präsident sich doch oft schon als knallharter Realpolitiker erwiesen hat. Dass Ideologie oft mehr ist als Fassade für die Massen, das sollte spätestens aber mit der sehr handfesten Umsetzung russischer Großmachtsphantasien in der Ukraine auch wieder ins außenpolitische Bewusstsein in Berlin gedrungen sein. Es scheint so zu sein, dass Erdoǧan Vieles, was er zu seiner Weltsicht sagt, auch wirklich so meint. Und in dieser Weltsicht ist der politische Westen moralisch zumindest fragwürdig, in jedem Fall aber politisch im Abstieg begriffen und eigentlich maximal ein temporärer Verbündeter.

Und hier liegt die Crux für europäische und deutsche Außenpolitik. In einem Moment, in dem die Türkei wegen der Konfrontation mit Russland noch weiter an geopolitischer Bedeutung gewinnt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass trotz aller Empörung im politischen Berlin über das Kavala-Urteil die Abwägungen schlussendlich doch wieder für Ankara ausfallen. Dort ist man sich ganz sicher: Wir sind einfach zu wichtig, als dass es jemals ernsthaften Druck gegen uns geben wird! Die Erfahrungen der letzten Jahre sprechen sehr dafür, dass die türkische Regierung hier wieder einmal Recht behalten wird. Das in Gang gesetzte Vertragsverletzungsverfahren des Europarats, dass unter anderem auf dem Fall Kavala beruht, könnte daher am Ende die Mitgliedsstaaten vor die Abwägung stellen, ob man eine nicht-kooperative Türkei in dem Gremium behalten möchte, oder lieber ganz rauswirft. Der Wind in Berlin und anderswo scheint eher in Richtung einer sanften Strafe zu gehen. Die Frage ist allerdings: Was für ein Partner ist ein Staat, dessen politische Elite in weiten Teilen eine Weltsicht zu haben scheint, die zahlreiche ihrer westlichen Verbündeten eigentlich als ewige Feinde sieht? Dies ist ein Dilemma, vor dem gerade eine grüne Türkeipolitik jetzt stehen dürfte, die dringend gefordert ist klar zu machen, ob sich ihr Kurs in irgendeiner Weise von der der Vorgängerregierungen unterscheidet, der da lautete: Augen zu und durch!

Für die Zukunft der Türkei hingegen gibt es so oder so wenig Aussichten auf Besserung. Zwar wird das Verfahren noch in die Berufung gehen, aber solange der Präsident auf Rache gepolt ist, ist die Hoffnung gering. Lediglich ein Wahlsieg der Opposition im nächsten Jahr könnte den jetzt Inhaftierten ihre Freiheit wiedergeben. Aber ob es dazu kommt, das ist unsicher - abgesehen von denen, bei denen die Ideologie der Regierung Widerhall findet, haben viele Türkinnen und Türken andere Sorgen als den Fall Kavala.

Stunden nach dem Verfahren, es ist längst dunkel vor dem leeren Gericht, erheben sich immer wieder Sprechchöre, mit dem Slogan der Gezi-Proteste: Überall ist Taksim, überall ist Widerstand! Aber es sind nur ein paar hundert Menschen - ihre Slogans verhallen rasch in der Nacht.


» Pressemitteilung: „Ein fatales Zeichen“: Europäische Stiftungen und Kulturmittler über die Verurteilung von Osman Kavala